Der FC Schalke 04 und seine zahlreichen Fans durchleben düstere Zeiten: Eine historisch schlechte Saison mit dem Abstieg in eine 2. Liga, die so gut besetzt ist, dass der sofortige Wiederaufstieg keineswegs garantiert ist. Und die Finanzlage ist so katastrophal, dass selbst die stattlichen aus dem Verkauf der Lizenz der eSport-Abteilung erlösten 26,5 Mio. Euro mitnichten in die Verstärkung der Mannschaft fließen werden, sondern zum Stopfen anderweitiger Finanzlöcher benötigt werden. Da mag der Anreiz groß sein, ein wenig in die ruhmreiche Vergangenheit einzutauchen, und diese kürzlich erschienene Biografie von Ernst Kuzorra bietet dazu einen vorzüglichen Einstieg.
Autor Thomas Bertram nennt Kuzorra im Untertitel völlig zu Recht den "größte[n] aller Schalker". Kuzorra wird zwar oft in einem Atemzug mit seinem Schwager Fritz Szepan genannt, doch es kann kein Zweifel daran geben, dass Kuzorra von den Zwanzigern bis in die Vierzigerjahre des 20. Jahrhunderts Herz und Seele jener großen Schalker Mannschaft war, die den Ruhm des Vereins bis heute begründet. Dies nicht nur als Spieler, sondern auch als Mannschaftsführer, eine Funktion, in der er die Richtung vorgab und vermutlich letztlich größeren Einfluss ausübte, als die Trainer und auch die Spielausschussmitglieder, denen eigentlich Taktik und Aufstellung oblagen. Zudem spielte auch nach dem Ende seiner Karriere eine bestimmende Rolle in dem Verein, dem er ein Leben lang die Treue hielt. (Bertram nennt diesen Verein den "bis heute erfolgreichsten Fußballverein aus dem Ruhrgebiet", was man so angesichts der inzwischen umfangreicheren Titelsammlung der Schwarz-Gelben aus Dortmund wohl nicht mehr sagen kann.)
Entstanden ist ein Buch, das sich keineswegs nur im engen Sinne auf die Darstellung des Lebens Ernst Kuzorras beschränkt und den damit einhergehenden Aufstieg eines kleinen westfälischen Fußballvereins zum allseits gefeierten Serienmeister beschreibt. Denn eingebettet ist all dies in eine ausführliche Darstellung des sozialen und kulturellen Hintergrunds, vor dem sich diese Geschichte entfaltete, eingeschlossen natürlich die masurische Migrationsgeschichte, ohne die der Schalker Aufstieg so kaum denkbar gewesen wäre. Ein ehrgeiziges Unterfangen, das insgesamt durchaus als gelungen bezeichnet werden darf; gerade dem mit der Geschichte des Ruhrgebiets nicht eng vertrauten Leser bietet sich hier eine Fülle von Informationen, die das Buch über die Person Kuzorra hinaus interessant machen.
Helmut Schön bezeichnete Kuzorra als den "größten Fußballer seiner Zeit" ein, gemeint ist wohl der größte deutsche Fußballer seiner Zeit. In der Tat gehört er durchaus in eine Reihe mit Größen wie Walter, Seeler, Beckenbauer und Netzer. Eine große Karriere in der Nationalmannschaft war ihm nicht beschieden, da der eigenwillige und meinungsstarke Kuzorra mit Reichstrainer Otto Nerz nicht konnte. So blieb ihm die Teilnahme an den Weltmeisterschaften 1934 und 1938 (dann schon unter Herberger) versagt. Aber über 20 Jahre in der 1. Mannschaft seines Vereins und sechs deutsche Meisterschaften sind auch nicht zu verachten.
Unvermeidlich für den Autor natürlich auch eine Beschäftigung des Autors mit der Rolle des Vereins Schalke 04 und Ernst Kuzorras in der Nazizeit. Dass der Verein von den Herrschenden als Aushängeschild benutzt wurde, als Symbol für eine angeblich klassenlose Volksgemeinschaft, ist bekannt; eine unmittelbare Bevorzugung im Sinne sportlicher Verstärkungen und ähnlichem erfuhr der Verein jedoch wohl nicht. Von Kuzorra darf angenommen werden, dass er ein zutiefst unpolitischer Mensch war, der sich nicht für das Regime engagierte, auch wenn er sich gelegentlichen, möglicherweise untergeschobenen, Stellungnahmen im Zusammenhang mit Wahlen und Abstimmungen nicht entziehen konnte. Wie so viele Fußballer seiner Zeit wollte auch er wohl "einfach nur Fußball spielen", eine verständliche Haltung, so traurig es auch sein mag, dass die Liebe zum Fußball immer wieder die Herausbildung eines politischen Bewusstseins überlagerte.
In den letzten Jahren ist eine Reihe von Biografien und Autobiografien von Fußballspielern erschienen, bei denen man sich fragen durfte, warum, warum jetzt, warum überhaupt. Ernst Kuzorra hat diese Biografie auf jeden Fall verdient, denn nicht nur auf Schalke sollte man die Erinnerung an ihn bewahren.
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P.S.: Bei allem Lob kommt der Rezensent allerdings nicht umhin, einige im Kontext des Buches unwesentliche kleinere Fehler zu bemängeln, die vermeidbar gewesen wären: Ein Satz zu einem Fußballverbot an bayerischen Schulen (S. 13) stellt den Sachverhalt historisch nicht ganz korrekt dar; für die 1930er von der "Vorstopperposition" zu sprechen (S. 22) ist ein Anachronismus; als die Schalker Ende der Zwanziger und Anfang der Dreißiger auf die Münchner Löwen trafen, hieß dieser Verein aufgrund der von den Turnern verlangten "reinlichen Scheidung" SV München 1860, nicht TSV 1860; der Autor des auf S. 177 zitierten Buchs war der Nestor des deutschen Fußballjournalismus, Richard Kirn (nicht Kim); und selbstverständlich ist das angeblich nicht überlieferte Ergebnis des so genannten "Anschlussspiels" zwischen Deutschland und dem nicht mehr existierenden Österreich vom 3. April 1938, an dem Kuzorra teilnahm, bestens bekannt: das Spiel endete mit 2:0 für die Österreicher um Matthias Sindelar!
Thomas Bertram, Ernst Kuzorra: Der größte aller Schalker (Bielefeld: Verlag Die Werkstatt, 2021. € 28,00)
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