BRÄNDLES BALLBERICHT


 

Ghiggias Fangschuss

 

Fabian Brändle

 

Die Cariocas waren in Massen ins neu erbaute Maracanastadion gepilgert. Man schätzt, dass rund 200000 Zuschauerinnen und Zuschauer anwesend waren, um das entscheidende Spiel der WM 1950 in Brasilien zu sehen. Der Gastgeber Brasilien war dabei haushoher Favorit, Gegner Uruguay ebenso klarer Aussenseiter. Die Ballkünstler aus Rio de Janeiro, Sao Paolo oder aus Santos und Recife um den vergötterten Stürmerstar Ademir hatten bisher gezaubert und in der Finalrunde Schweden und Spanien regelrecht überrannt und ausgespielt. Einzig in der Vorrunde hatte der Offensivmotor gestottert: Die tapferen Schweizer um Linksaussen „Jackie“ Fatton, Hans-Peter Friedländer und Olivier „El Canarinho“ (Kanrienvogel wegen des strohblonden Haars) Neury hatten der Selecao ein überraschendes Unentschieden (2-2) abgerungen, sehr zum Erstaunen der kurzfristig enttäuschten brasilianischen Fans, die fest mit einem Kantersieg gerechnet hatten. Doch sahen dies diese etwas euphorischen Fans nicht als Schuss vor den Bug an, sondern als verzeihungswürdiges Versehen.

 Die „Urus“ ihrerseits hatten Mühe gehabt gegen die Europäer. Dabei hatte das Team durchaus Qualität. Man denke nur an Mittelfeldspieler Juan Schiaffino… oder an Alcides Ghiggia (1926-2015), einer der besten, dribbelstärksten Rechtsaussen der Welt.

Die Brasilianer waren standesgemäss in Führung gegangen, sehr zur Verzückung ihrer zahllosen Anhängerinnen und Anhänger im ganzen riesigen Land. Doch nachdem Juan Schiaffino verdientermassen ausgeglichen hatte, wurde es merklich ruhiger im riesigen Oval. Dann fasste sich der fleissige Alcides Ghiggia, ein steter Unruheherd, ein Herz, drückte aus rund 25 Metern aus vollem Lauf ab. Und sein scharfer Fangschuss zappelte im Netz. Die Brasilianer, mittlerweile merkwürdig nervös geworden, konnten auf den Rückstand nicht mehr reagieren, Uruguay siegte sensationellerweise, war, zum zweiten Mal nach 1930 im eigenen Land, Weltmeister geworden. Das grösste Land des südamerikanischen Kontinents verfiel in kollektive Hysterie, Melancholie und Trauer.

Ein Sündenbock für die allgemeine Misere war schnell gefunden: Torwart Moacir Barbosa hätte Alcides Ghiggias platzierten Schuss halten müssen. Dabei war Moacir Barbosa bis dahin der beste Goalie des gesamten Turniers gewesen, ein Weltklassemann. Und nun fielen Cariocas und Medien vereint über den Bedauernswerten her, dessen fulminante Karriere einen klaren Knick erlitten hatte.

Moacir Barbosa sollte nie mehr auf seinem hohen Niveau spielen, allein, in den Augen der frustrierten brasilianischen Fans blieb er der Hauptverantwortliche für das Debakel von 1950. Die zornigen Fans verfolgten Barbosa bis hinein in sein Privatleben. Ein Mord verjähre nach 25 Jahren, so der Torwart, sein Fehler verjähre indessen nie.

Alcides Ghiggias Karriere dauerte demgegenüber an. Ghiggia war in Montevideo geboren worden, spielte für Sud America und für den Traditionsverein Penarol, ehe er nach Italien zur AS Roma wechselte und dort unter anderem den europäischen Messestädtecup gewann. Der Rechtsaussen und Dribbler mit den schönen Flanken erwarb den italienischen Pass und spielte auch einige Partien für die Squadra Azzurra, ehe er als bereits älterer Spieler zur AC Milan wechselte.

Schon im Pensionistenalter, war Alcides Ghiggia Stammgast in den Bars und Kaffeehäusern Montevideos. Immer wieder wurde er zu Details nach seinem bald legendären Fangschuss gegen Brasilien befragt, immer wieder gab er geduldig Antwort. Alcides Ghiggia war berühmt, immer noch, in ganz Uruguay. Fast so berühmt wie der erste schwarze Superstar des Weltfussballs, Andrade, der Supertechniker und Regisseur der Weltmeisterschaftself von 1930. Doch das ist eine andere Geschichte.


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