BRÄNDLES BALLBERICHT


 

Severino Minelli, Einwanderersohn und Fussballstar der 1930er Jahre

 

Fabian Brändle

 

Der Küsnachter Severino Minelli (1909-1994), dessen Eltern aus dem Bergamaskischen in die Deutschschweiz eingewandert waren, war zweifellos einer der weltbesten Verteidiger der 1930er Jahre. Mit GC und Servette Genf feierte er Meisterschaften in Serie, mit der Nationalmannschaft erreichte er bis 1943 nicht weniger als 80 Länderspiele, was damals einen internationalen Rekord darstellte.

Der mitunter hart und bissig agierende, temperamentvolle, technisch gleichwohl einwandfreie „Fullback“ war auch beim grössten Triumph einer Schweizer Nationalmannschaft in zentraler Rolle mit dabei, als die „Rotjacken“ an der WM 1938 in Paris den haushohen Favoriten aus „Grossdeutschland“ mit 4:2 nach Hause schickten. In seinen kurzen Karriereerinnerungen, erschienen im „Küsnachter Jahrbuch“ 1968, beschreibt Severino Minelli einige Stationen seiner eindrücklichen Fussballerkarriere.

Wann genau die Eltern aus Norditalien in die Schweiz gekommen sind, ist noch nicht klar. Wir wissen aber, dass um 1900 viele Lombarden in die Schweiz kamen, um auf Baustellen oder als Tunnel- und Erdarbeiter ihr Brot zu verdienen. Als Ausländer und Katholiken stiessen sie oft auf Ablehnung.

Nach der Absolvierung der Rekrutenschule 1929 zog es Minelli wie damals viele Deutschschweizer in die Romandie, um berufliche Erfahrungen zu sammeln und die Sprachkenntnisse zu erwerben. Er trainierte bei Servette Genf, trainierte mehr als jeder andere, oft alleine, arbeitete unermüdlich an seiner Kondition, an seiner Sprungkraft und an seinem Kopfballspiel. Schon bald debütierte Minelli in der ersten Mannschaft des berühmten Clubs. Bereits in seiner ersten Saison errang er die Schweizer Meisterschaft, 1930 erfolgten die ersten Berufungen zur Nationalmannschaft anlässlich einer Nordlandreise.

Die folgende Etablierung einer Profiliga gegen den Widerstand der konservativen „Amateuristen“ und „Olympioniken“, die im Profitum einen Verrat an den hehren Ideen des Fairplay und eine nationale Schande witterten, eröffneten der begabten Generation um Minelli, „Xam“ Abegglen, „Trello“ Abegglen oder Fredy Bickel einige finanzielle Perspektiven, zumal während der schwierigen Zeit der Weltwirtschaftskrise von 1929 bis 1939 eine hohe Arbeitslosigkeit und eine nie gekannte Armutsziffer zu verzeichnen waren.

Wie viel Minelli damals genau verdiente, ist unbekannt, sein Lohn als einer der Spitzenfussballer seiner Zeit dürfte das Dreifache eines Handwerkers jedoch nie übertroffen haben. Immerhin winkten weite Reisen bei Auswärtsspielen der Nationalmannschaft und beim „Mitropa-Cup“, einem Vorläufer des Europapokals. Die Profiliga wollte nie recht rentieren, auch wenn beispielsweise Wiener und Budapester Stars zu bewundern waren.

Höhepunkt der Karriere Minellis war zweifellos die WM 1938 in Frankreich. Drei Jahrzehnte später erinnerte sich der „Secondo“:

„Es sah sehr schlecht aus, als der Gegner auf 0:2 davonzog (einer der Treffer war allerdings ein fatales Eigentor von uns). Aber kurz vor der Pause holten wir durch Walacek wenigstens ein Tor auf. In der 2. Halbzeit weckte der wunderbare Teamgeist unserer Mannschaft ungeahnte Kräfte. Trotzdem wir wegen einer Verletzung von Aeby für längere Zeit nur mit zehn Mann spielen konnten, rissen wir das Spielgeschehen an uns. Bickel schuf auf seine unvergleichliche Art den Ausgleich 2:2, und dann waren wir nicht mehr zu halten: Durch zwei Tore des unvergessenen Trello Abegglen kam es zum 4: 2 für die Schweiz und damit zu einem Ende der « grossdeutschen Weltmeisterschaftsträume» Unvorstellbar, unvergesslich wurden die Minuten nach dem Schlusspfiff - wie eine Sturzflut brach der frenetische Begeisterungssturm des Publikums über uns jubelnde Spieler. Die Genugtuung in der Sportwelt war angesichts der weltpolitischen Lage von damals besonders gross über unsern Sieg.“

Der Sieg löste eine nationale Euphorie aus, wurde auch zu einem Symbol, sich gegen die Bedrohung der „Nazis“ zur Wehr zu setzen. Die Politiker münzten den sporthistorisch sicher wichtigen Sieg in eine „nationale Willensleistung“ um. Dass er von viel geschmähten „Profis“ errungen wurde, war jetzt Nebensache.

Ein gutes Jahr später war der Zweite Weltkrieg ausgebrochen. Minelli und seine Kollegen absolvierten dennoch Länderspiele. So im November 1939 gegen das faschistische Italien Mussolinis:

„Im November 1939 stand das Spiel gegen den seit drei Jahren ungeschlagenen Weltmeister Italien auf dem Programm. Die Schweizer Soldaten waren seit Monaten mobilisiert, und auch wir Fussballer bildeten keine Ausnahme. Nach nicht unerheblichen Schwierigkeiten kam der Länderkampf in Zürich doch zustande – der General hatte das entscheidende Wort gesprochen, war doch jeder Spieler unserer Nationalmannschaft Soldat. Alle kamen sie jetzt im feldgrauen Wehrkleid. General Henri Guisan begrüsste uns zuerst in der Umkleidekabine. Als Mannschaftskapitän reichte ich ihm nach der Achtungsstellung die Hand und meldete : « Herr General, Motorfahrer Minelli! » In diesem Händedruck musste der Oberbefehlshaber unserer Armee sicher die Spannung und die Energie gespürt haben, die sich in mir und in meinen Kameraden für unser Vorhaben auf dem Terrain aufgestaut hatte. Mit seinem festen und gleichzeitig so einprägsamen Blick gab er uns gleichsam einen Befehl mit, der in der Folge unsere Leistungen ungewöhnlich werden liess. Der stolze Weltmeister Italien mit allen seinen Stars musste sich einwandfrei mit 3:1 geschlagen bekennen! Als Dank für diese sportliche Leistung gewährte uns der General trotz der angespannten Lage einen zusätzlichen Tag Urlaub.“

Dass die Gegner des Profifussballs wie General Guisan inzwischen die Wirren des Kriegsbeginns ausgenützt hatten, um die Profiliga handstreichartig abzuschaffen und Zuwiderhandlungen hart zu bestrafen, vermerkt Minelli aber nicht.

 

Siehe auch:

Koller, Christian und Fabian Brändle. 4:2. Die goldene Zeit des Schweizer Fussballs 1918-1939. Göttingen: Verlag Die Werkstatt 2014.

 


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