Wie sich die Zürcher Feierkultur in den letzten dreissig Jahren verändert hat
Von Fabian Brändle
Kroatien, die Türkei, Spanien, die Schweiz, Portugal haben den Match soeben gewonnen: Keine fünf Minuten nach dem Schlusspfiff wälzen sich mit Fahnen bewehrte Autokolonnen in Richtung Limmatplatz im Kreis Fünf, um die Langstrasse, die Rotlicht und Vergnügungsmeile Zürichs, hinaufzufahren, lärmend, dröhnend, hupend. Autocorsi gehören mittlerweile zum Bild einer jeden grossen Fussballendrunde mit dazu. Passantinnen und Passanten in eigens gekauften, teuren Retroshirts jubeln den euphorisierten Auto- und Beifahrern zu, eine Büchse Billigbier oder einen Prosecco im Plastikkelch in der Hand.
Wenn Brasilien spielt, finden sich auffallend viele schweizerische ältere Männer mit Bierbäuchen und mit gelben Brasil-Shirts auf den Gehsteigen der Langstrasse. Sie hoffen wohl, eine siegestrunkene brasilianische Prostituierte zum Sondertarif aufzugabeln. Neymar drei Tore, heute nur fünfzig.
Der Trubel dauert in der Regel bis nach Mitternacht an, dann fahren die letzten Autofahrer erschöpft nach Hause, nach Uster in die Agglomeration oder nach Wettingen im Kanton Aargau. Endlich. Auch die Besoffenen machen sich dann langsam auf den Heimweg. Das von Drogendeal, Strassenstrich und Partykultur ohnehin arg gebeutelte Langstrassenquartier gleicht dann einer offenen Mülldeponie, Büchsen, Plastikbeutel und Kartons stapeln sich halbmeterweise. In der Frühe räumen das alles dann afrikanische Putzbrigaden, Stosstrupps gleich, wieder weg. Die Sklaverei ist doch abgeschafft?
Mittlerweile hupen Serben auch nach Siegen im Handball oder im Basketball. Genauso Kroaten. Das macht sie nicht eben beliebter bei der dem Balkan gegenüber kritischen Schweizer Urbevölkerung.
Eigentlich merkwürdig, dass sich die vielen Deutschen in Zürich so passiv, ja zurückhaltend verhalten. Grund zum Jubeln hätten sie ja oft genug. Doch wollen sie auf keinen Fall auffallen, auf keinen Fall tief verankerte antideutsche Ressentiments unter den Schweizerinnen und Schweizern wecken. Geradezu sympathisch war mir ein deutscher Minicorso bestehend aus vielleicht vierzig Radfahrerinnen und Radfahrern. Die Radfahrer hupten nicht, nein, sie klingelten leise mit der Fahrradglocke. Ironie pur. Gut gemacht.
Wann hat das alles eigentlich angefangen mit der Huperei? War das an der Weltmeisterschaft im Jahre 1994 in den USA? Ich mag mich an einen damaligen Corso Schweizer Fans auf der Langstrasse erinnern, nachdem nach überragender Leistung Rumänien in der Vorrunde mit 4-1 geschlagen worden war. Chapuisat und Alain Suter glänzten. Man wähnte sich bereits als Halbfinalist, doch ging das Achtelfinale gegen Spanien leider deutlich mit 0-3 verloren. Ich stand damals als Passant und Anwohner ohne Bierbüchse an der „LS“, wie der Zürcher Liedermacher Toni Vescoli die Langstrasse genannt hat, und war fasziniert. Das alles war noch neu, ungewohnt, noch kein weiteres Ärgernis für Anwohnerinnen und Anwohner.
Mittlerweile hofft man ja auf Länder mit weniger Huppotenzial wie Schweden, Irland oder Algerien als Favoritentöter. Mit wie viel mehr Stil haben damals meine italienischen Freunde nach dem WM 1982 in Spanien in meinem Dorf in den Bergen ihren Titel gefeiert, darunter Jungs in meinem Alter, amici, Donato Gioiosa, Stefano, Sandro Gentile, sein Bruder Enzo. Sie banden nach dem Finalsieg gegen die BRD (3-1) kurzerhand eine Trikolore in Grün-Weiss-Rot an einen langen Ast und liefen singend auf der Hauptstrasse hin- und her: „Italia, Italia“ und „Rossi, Tardelli, e Altobeli“. Seitdem gehören meine Sympathien an Turnieren unter den Favoriten stets den Azzurri. Die wissen auch meistens einen Fuchsspieler, einen fantasista wie Roberto Baggio, Gianluca Vialli, Alessandro Del Piero, Franco Causio oder Andrea Pirlo in ihren Reihen. Und sie besitzen die schönsten Leibchen weit und breit.
Blau wie das Meer. Gente di Mare. Fernweh.
Juli 2020
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