Fussballpioniere um 1900 aus der Sicht eines Berner Jugendlichen
Fabian Brändle
Der Fussball als moderner, aus England importierter Mannschaftssport, etablierte sich in den späten 1880er Jahren in der Schweizer Hauptstadt Bern. Im Jahre 1894 gründeten dort vorwiegend Ärzte und weitere Akademiker um Dr. med. Friedrich Schenk, der zugleich Nationalturner und Bundesratssohn war, den FC Bern. Fussball galt im „fin de siècle“ zumindest innerhalb der älteren Generation der Arbeiter, kleinen Angestellten, Handwerker und Kleinbürger noch als exklusiver „Herrensport“.
Die meist schon älteren, etwas behäbigen Akademiker des FC Bern trainierten auf dem Kasernenareal, um später auf den Kirchenfeldplatz zu wechseln. Zwei Beobachter besuchten Zürich, um dort die fortgeschrittene Spielkultur der bereits seit 1886 im institutionellen Rahmen kickenden Grasshoppers zu erkunden. Der Vorstand gewährte einigen spielstarken und flinken Gymnasiasten gewisse Freiheiten in einer Schülermannschaft, bald aber kam es wegen Neid und Konkurrenzkämpfen zu starken Differenzen, so dass im Jahre 1898 ein Grossteil der Schüler austrat, um den FC Young Boys (später BSC Young Boys) zu gründen. Vorbild bei der Namensgebung war der in der Frühzeit des Fussballs populäre Basler Verein „Old Boys“.
Beide Berner Clubs waren in dieser „Pionierzeit“ der Schweizer „Fussballbewegung“ bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Jahre 1914 sehr erfolgreich, was die Rivalität weiter beflügelte. Während der FC Bern den Meistertitel gleich mehrmals nur denkbar knapp verpasste, gewannen die Young Boys (kurz YB) auf dem eigenen „Spitalacker-Platz“ von 1909 bis 1911 gleich drei Titel in Serie! Die sportlichen Rivalitäten bei den „Derbys“ führten in der Hauptstadt zu einer gewissen Lagerbildung. Daran erinnerte sich viele Jahrzehnte später ein Zeitzeuge.
Ein Stadtberner Fussballpionier war nämlich auch der im Jahre 1898 geborene Paul Boss, der an der Aarberggasse im Nordquartier aufwuchs, die Primarschule Breitenrain und die Knabensekundarschule Viktoria besuchte, um nach dem Besuch des Lehrerseminars als Primarlehrer im Oberaargau und in Bern/Bethlehem zu unterrichten. Paul Boss hatte diverse Talente, studierte Musik und Literatur sowie Malerei an der Kunstgewerbeschule. Er versuchte sich als Schriftsteller, Journalist (u.a. „Nebelspalter“) und als Zeichner. Er wuchs als sozialer Aufsteiger in eher bescheidenen, kleinbürgerlichen Verhältnissen auf und nahm den Wandel der Freizeitkultur der Vorkriegsjahre sehr bewusst wahr, berichtet er doch in seinen Jugenderinnerungen unter anderem von ersten Kinobesuchen auf der „Schütz“ oder in der Reitschule, dem heutigen Zentrum der „autonomen Kulturszene“, das von rechten Gruppierungen und Parteien wie der Schweizerischen Volkspartei (SVP) scharf kritisiert wird.
Nachdem die vielen kleinen und grössere Arbeiten sowie die Schulaufgaben endlich erledigt waren, trafen sich die vielen Knaben des Quartiers, um die Strassen mehr oder weniger unbeaufsichtigt mit allerhand Unfug, Mutproben, recht brutalen „Quartierkämpfen“, Lausbubenstreichen, Spiel und Sport unsicher zu machen. Neben traditionellen Jugendspielen wie „Chnebele“ oder „Märmeln“ (Murmelspiel) pflegten die Berner „Giele“ im Winter im Widmergut zu schlitteln oder bereits auf „Fassdauben“ tollkühn Ski zu laufen, sehr zur Freude der zahlreichen Bewunderer auf der andern Seite der Greyerzterasse.
Als junger Fussballfan war Boss ein Supporter der Young Boys, die damals auf dem Sportplatz Spitalacker kickten. Die Zuschauer standen ganz nah am Spielfeld des kleinen Platzes. Jung und Alt habe die „Ballkunst“, die „Spielfreude“ und den „Siegeswillen“ von YB während der „Glanzzeit“ von 1909 bis 1911 bewundert und kommentiert. Da Taschengeld unbekannt war, wohnten die Buben den Spielen ihrer Lieblinge mit „Zaunbilleten“ bei. Sie kannten als „Zaungäste“ Schlupflöcher, um einen Match auch ohne Eintrittsgeld verfolgen und kommentieren zu können. Besonders populär waren internationale Spiele gegen englische Teams, die als Lehrmeister aus dem Mutterland des modernen Fussballs noch „haushoch überlegen“ waren: „Man denke, es waren Profis, während es sich bei unseren Spielern um reine Amateure handelte. In Körpereinsatz und Technik waren die Engländer noch unerreicht. Ein bis zwei Jahrzehnte später hatten aber englische Teams gegen gut zusammengestellte hiesige Mannschaften oft schon ordentlich Mühe“, wie sich Boss an die Zeiten lange vor Weltmeisterschaften, Mitropacup oder Europacup erinnert. Wie andere „Sekeler“ aus dem Nordquartier war auch Boss ein erklärter YB-Fan. Der grosse Lokalrivale war der FC Bern, der seine Spiele hinter dem Historischen Museum auf dem Kirchenfeld austrug und dort sowie in den angrenzenden Quartieren auf die treuesten Anhänger zählen konnte. „Stadtrivalenkämpfe zwischen YB und Bern warfen weitherum – namentlich bei der fussballbegeisterten Jugend – hohe Wellen“, beschreibt Paul Boss die emotional aufgeladene Welt der Berner „Derbys“.
Die Sekundarschüler im „Viktoria“ waren entsprechend in zwei sich beargwöhnende Faktionen getrennt: „Hie YB – Hie Bärn“. Während der Schulpausen, auf dem Schulweg oder auf Exkursionen neckten sich die jugendlichen Fans „und hatten an dieser Rivalität ihr Vergnügen. Schlimme Formen nahm diese selten an. Ein wenig hoch angeben, «müpfen», stossen – was verschlug's, das gehörte zum Bubsein.“
Boss, Paul. Ein Bärner Giel erzählt. Reminiszenzen eines alten Stadtberners. Bern: GS Verlag 1980.
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