BRÄNDLES BALLBERICHT


  

Genosse Rudwaleit

Zum DDR-Fussball aus schweizerischer Sicht

 

Fabian Brändle

 

Als kleiner Knabe, im Alter von vielleicht acht oder neun Jahren, studierte ich mit Vorliebe den hauseigenen Weltatlas. Auf den Seiten „Mitteleuropas“ registrierte ich in meiner kindlichen Naivität Merkwürdiges: Da stand nämlich geschrieben: „Bayern, Sachsen-Anhalt“. Noch wusste ich natürlich nichts von der anhaltinischen Linie der Wettiner, der lange Jahrhunderte regierenden Dynastie, ich stand vor einem handfesten Problem. Sachsen-Anhalt? Was soll das bedeuten? War das nicht dort, wo man an der Grenze mit Auto oder Zug anhalten musste? Wo ein Grenzwall, eine hohe Mauer aus Beton standen und die Ausreise der geknechteten Bevölkerung verhinderten? Wo auf einem Todesstreifen Scharfschützen, Minen und Selbstschussanlagen auf die Flüchtigen lauerten?

Das damalige Wissen schweizerischer Schülerinnen und Schüler von der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) war mehr als begrenzt und von Vorurteilen geprägt. Da war die Parteidiktatur der SED samt Zentralkomitee und Politbüro, da waren offensichtlich schwer gedopte Sprinterinnen wie Marlies Göhr oder Kathrin Krabbe, da war die Staatssicherheit (Stasi), die ein sozusagen lückenloses Spitzel- und Informantennetz über den gesamten Arbeiter- und Bauernstaat ausbreitete und Angst sowie Misstrauen verbreitete.

Vom ostdeutschen Fussball wussten wir wenig. Sicher, wir kannten die Topvereine wie Dynamo Dresden, Dynamo Ost-Berlin, Lok Leipzig, Carl Zeiss Jena oder den 1. FC Magdeburg aus Thüringen, der einmal, Mitte der 1970er Jahre, einen Europapokal gegen die stolze AC Milan gewonnen hatte. Doch ansonsten war der DDR-Fussball mehr oder weniger terra incognita. Die ostdeutsche Nationalmannschaft hatte, das haben wir mitgekriegt, damals an den Weltmeisterschaften von 1974 in der BRD im prestigereichen innerdeutschen „Duell der Systeme“ den Favoriten in dessen eigenem Stadion mit 1-0 geschlagen (Tor durch Jürgen Sparwasser). Das war eine Sensation, aber die BRD um Franz Beckenbauer, Gerd Müller und Jupp Heynckes wurde gegen Holland trotzdem Weltmeister.

Im Jahre 1976 sicherten sich die DDR-Staatsamateure im eher mittelmässig besetzten, von den Schwarzafrikanern boykottierten Turnier in Kanada die olympische Goldmedaille im Finale von Montreal, doch diese stolze Leistung registrierten wir kaum. Schon eher wurden wir auf die ostdeutschen Kicker aufmerksam, wenn sie unsere „Nati“, mehr als schwach in den 1970ern und 1980ern, klar und eindeutig bodigten. Ich erinnere mich beispielsweise an ein 0-3 Desaster an einem Qualimatch in Ost-Berlin, im hauseigenen Stadion von Dynamo, dem Club Erich Mielkes. Unsere „Nati“ war einmal mehr ambitioniert und hoffnungsfroh angetreten, aber umso chancenloser geblieben. Im Team der DDR standen Spieler mit furchteinflössenden Namen wie Kische, Rudwaleit oder Steinbach. Tatsächlich habe ich in der Erinnerung (die kann täuschen) die DDR-Spieler als grösser und athletischer als unsere Mannen präsent. An Härte überboten sie unsere „Wölfe“ merklich.

Die Schweiz vermochte in ihrer langen Länderspielgeschichte die vergleichsweise kurzlebige DDR niemals zu schlagen, ein, zwei Unentschieden waren die besten, mageren Resultate aus insgesamt lediglich fünf Vergleichen.

Im Klubfussball sah es auch nicht viel besser aus. Zwar vermochte der FC Zürich einmal in den 1970ern Dynamo Dresden im Landesmeisterpokal dank der Auswärtstoreregelung auszuschalten, ansonsten setzte es jedoch zum Teil haushohe Niederlagen ab. Der FC Sion wurde einmal von Lokomotive Leipzig regelrecht niedergekantert und nach allen Regeln der Kunst auseinandergenommen (8-0?), und kurz vor dem Fall der Mauer im Herbst 1989 mussten die Walliser im UEFA-Cup im sächsischen Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz) antreten, um dort ebenfalls mit 1-4 unterzugehen.

Der damals bereits 35-Jährige Reservetorhüter Sions, der Gymnaisallehrer für Deutsch, Jean-Marie Pitié, der eigens für das hochwichtige Spiel reaktiviert worden war, gab nach dem Schlusspfiff zu Protokoll, dass das zu eindeutige Resultat sekundär sei angesichts der weltpolitischen Lage. Das sei ein historischer Match gewesen, denn wer wisse schon, wie lange die kriselnde DDR noch bestehen würde.

Prophetische Worte, wie sich zeigen sollte.

 


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