In meiner Kindheit am Fusse des Säntis im voralpinen Toggenburg waren Fussballplätze in Originalmassen ein äusserst knappes Gut. Mein Doppeldorf Nesslau-Neu St. Johann verfügte indessen über zwei Bolzplätze mit kleinen Toren. Der eine Platz gehörte der Schulgemeinde und war mit Schermaushügeln übersät, der andere war Teil des «Johanneums», einem kantonalen, sehr grossen Heim für geistig beeinträchtigte Kinder und Jugendliche. Dieser Platz war in gutem, ja vorbildlichem Zustand, wenn auch zu klein für einen echten FC. Er stand uns «Dörflern» nicht immer offen, und der Platzwart vertrieb uns, wann immer es seine Willkür ihm zuflüsterte, und das war oft so.
Die Tore hatten im Gegensatz zum kleineren kommunalen Platz Netze, echte Netze, in die der Schütze herrlich zielen konnte und die sich bei einem Treffer regelrecht ausbeulten. Manchmal ergaben sich auch Kontakte mit den Beeinträchtigten, kam es zu Spielen zwischen «Dörflern» und «Johannitern», wie wir die Heimbewohnerinnen und Heimbewohner diskriminierend nannten (ein anderes heute verbotenes Wort war «Behinderte»). Gemein waren die Gimmi-Brüder, welche die Beeinträchtigten gerne plagten, ihre sadistische Ader auslebten.
Ich mag mich beispielsweise erinnern, wie sie einen Bewohner als Torhüter auswählten und aus nächster Nähe in Bauch und an den Kopf hämmerten. Ein guter «Goalie» müsse eben furchtlos sein und dürfe auf keinen Fall Angst vor dem Ball zeigen, sagten sie dann böse.
Ich selbst habe zwar nicht auf den Bemitleidenswerten geschossen, mich aber auch nicht entschieden genug gegen das begangene Unrecht gewehrt. Darüber mache ich mir bis heute einen Kopf. Bin ich zum eigentlichen Mitläufer geboren? Wie würde ich mich in einer Diktatur verhalten?
Bolzplätze wie der vom Kulturwissenschaftler Andreas Bernard so brillant beschriebene Münchner, Sendlinger «Gummi» hätten einen eigenen, wilden Spielertypus hervorgebracht, dribbelstark und unberechenbar, sagen Sportreporter beinahe stereotyp. Das mag bei Einzelfällen wie beim Münchner Flügelstürmer «Wiggerl» Kögl oder wie beim Kölner Weltmeister Lukas Podolski durchaus zutreffen. Wie der Berliner Professor Andreas Bernard aber zurecht schreibt, wurde die «Bolzplatz-Kickerei» von den Teilnehmenden mit geradezu inbrünstiger Seriosität betrieben. Keine Spur von Ausgelassenheit oder von Regellosigkeit. Auch die lokal unterschiedlichen kleinen Spielformen i.e. «Ball in die Luft» oder «Tandeln» dienten nicht dem reinen Amüsement, sondern luden zu ernsten Wettkämpfen ein.
Natürlich kannten auch wir Obertoggenburger Buben solche phantasievollen Spielformen. Ein gewisses Spiel habe ich sogar selbst erfunden. Es eignete sich für zwei bis drei Mitspieler und blieb namenlos. Ziel war es, einen Schuss direkt ins leere Tor abzugeben, ohne dass der Ball auch nur einmal auf dem Boden aufsetzte. Das ist für kleinere Kinder gar nicht so eine leichte Aufgabe. Wer diese schwere Aufgabe nach drei Versuchen nicht meisterte, schied unwiderruflich aus.
Nach jeder Runde verschoben sich die Buben einige Meter nach hinten, bis Schüsse aus ca. 30 Metern ihren Weg ins Ziel finden mussten. Dann trennte sich endgültig der Spreu vom Weizen. Das Spiel war an sich friedlich, es jedoch trotzdem Streitereien, vor allem mit den notorischen Gimmi-Brüdern.
Diese waren nämlich nicht zuletzt auch noch schlechte Verlierer.
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